Die Corona-Krise und ihre Folgen für die Bildungsgerechtigkeit

Positionspapier der AG Bildung und des Stadt- und Kreisverbandes Göttingen

27.05.20 –

Die letzten Wochen und Monate waren wegen der Ausbreitung des Corona-Virus von den umfangreichsten Einschränkungen gesellschaftlichen Lebens bestimmt, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat. Aktuell befinden wir uns gerade in einer Phase der Lockerungen, wobei die Gefahr einer weiteren Welle noch nicht gebannt ist. Das Land Niedersachsen hat mit dem Stufenplan „Neuer Alltag in Niedersachsen“ nun einen umfassenden Plan zur Wiederöffnung des gesellschaftlichen Lebens vorgelegt.

Die Einschränkungen des Alltags in den letzten Wochen haben umfassende Belastungen für alle Menschen mit sich gebracht, aber auch deutlich gezeigt, dass die Belastungen sehr ungleich verteilt sind. Ohnehin schon bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten werden durch die Corona-bedingten Einschränkungen verschärft:

• Für Menschen, die in beengten Wohnungen ohne Garten oder Balkon leben, bedeuten die Kontaktbeschränkungen eine deutlich höhere Belastung als für diejenigen, die in Wohnungen mit viel Platz oder in Eigenheimen mit Garten leben.

• Für Menschen, die ohnehin schon über geringe finanzielle Ressourcen verfügen, bedeutet der Gang in die Kurzarbeit ohne Aufstockung, weitere Einschränkungen. Studien zeigen, dass vor allem Gebildete in höher bezahlten Berufen ihrer Tätigkeit im Home Office nachgehen können, wogegen Niedriglöhner*innen überproportional in Kurzarbeit gehen müssen und so Einkommenseinbußen hinnehmen müssen.

• Menschen, die von Transferleistungen abhängig sind, verfügen nicht über Rücklagen, um in technische Infrastruktur zuhause zu investieren und sich damit den Bedingungen unter Kontaktbeschränkungen anzupassen. Steigende Preise im digitalen Bereich und im Alltagsleben schränken das persönliche Leben noch weiter ein.

• Für Familien mit Kindern bedeuten die Schließungen von Kitas und Schulen erhebliche zusätzliche Belastungen. Das gilt umso mehr für Alleinerziehende, die generell ein hohes Armutsrisiko tragen und jetzt vielfache Belastungen tragen müssen, bei gleichzeitigem Wegbrechen wichtiger Unterstützungsmöglichkeiten.

• Die plötzliche Verpflichtung zum umgangssprachlich so genannten „Home Learning“ („Lernen zu Hause“ lt. MK), trifft auf vollkommen unterschiedliche Bedingungen in den Familien. Die Voraussetzungen, um von zuhause aus digital an den schulischen Angeboten teilnehmen zu können, ist in vielen Familien nicht gegeben: Das betrifft die Verfügbarkeit von Internet und digitalen Endgeräten, die sprachlichen Kompetenzen und die Kompetenz zur Selbstorganisation, wenn schulische Anforderungen vor allem auf schriftlichem Wege selbständig erfüllt werden müssen, aber auch räumliche Kapazitäten und Ruhe sowie die Abwesenheit von Konfliktszenarien.

• Kinder und Jugendliche, die zuhause keine oder wenig Unterstützung beim Lernen erhalten, werden innerhalb kürzester Zeit beim Lernstoff abgehängt, wobei Lehrer*innen beim „Lernen zu Hause“ entstehende Probleme nur schwer erkennen und präventiv bearbeiten können.

• Kindern und Jugendlichen, die regelmäßige Besucher*innen von Kinderhäusern und Jugendzentren sind und dort umfangreiche Unterstützung bekommen, fehlt ein wichtiger sozialer Bezugspunkt. Wenn sie über Wochen und Monate keinen Kontakt zu ihren gewohnten Bezugspersonen haben, wird ein neues Vertrauensverhältnis erst mühsam neu hergestellt werden müssen.

• Auch wenn der Rechtsanspruch auf Schulbegleitung weiterhin besteht, wird dies z.Zt. nur mit einem geringen Stundenumfang umgesetzt.

Diese Liste der Bildungsbenachteiligung verschärfender Entwicklungen ließe sich endlos fortsetzen. Die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung machen vorhandene Defizite des Bildungssystems und bei den sozialen Unterstützungsstrukturen sichtbarer. Die nachfolgenden Forderungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stadtverband und Kreisverband zur Bewältigung der Folgen der Corona-Krise sind daher von allgemeinen sozialpolitischen Vorschlägen kaum zu trennen. Darüber hinaus entstehen aber auch ganz neue Herausforderungen, u.a. weil Bildungs- und Unterstützungsmethoden unter den Bedingungen des „Social distancing“ nicht mehr oder schwieriger umgesetzt werden können.

Unsere Forderungen:

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Stadt und dem Landkreis Göttingen fordern, dass gerade jetzt, wenn die Pläne für die Wiedereröffnung von Schulen und Kitas erarbeitet werden, die Bedarfe derjenigen, die ohnehin den schwersten Stand in der Gesellschaft und damit auch im Bildungssystem haben, prioritär berücksichtigt werden. Die Öffnungsstrategie der Schulen orientiert sich derzeit im Wesentlichen an Prüfungsrelevanz und weniger an Fragen der Inklusion oder der Bildungsgerechtigkeit.

Die Erlasse des Landes Niedersachsen und die dazu gehörigen Rundverfügungen des Kultusministeriums erlauben in dieser Hinsicht erhebliche Spielräume. Die aktuelle Rundverfügung 13/2020 ermöglicht auch eine Beschulung in besonderen Härtefällen.

Darunter fallen z.B. Situationen mit erschwerter Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere bei Alleinerziehenden, die gemeinsame Betreuung von Geschwisterkindern und drohende Kündigung und erheblicher Verdienstausfall der Eltern. Diese Kriterien müssen bei dem Zugang zu Notgruppen in KITAs und Schulen besonders berücksichtigt werden.

In der Coronakrise muss auch jetzt noch ein Großteil des Lernens zu Hause stattfinden, daraus ergibt sich eine verstärkte Benachteiligung von Kindern, die dabei in ihren Familien wenig Unterstützung erfahren. Daher fordern wir die zusätzliche Unterstützung dieser Kinder, damit sie geforderten Lerninhalte bewältigen können und den Anschluss in ihren Klassen nicht verpassen.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Stadt Göttingen und im Landkreis sind sich der enormen Arbeitsbelastung der kommunalen Verwaltungen, der Schul- und Kitaleitungen während der Corona-Krise bewusst und wertschätzen die vielfältigen Anstrengungen und erreichten Erfolge beim Infektionsschutz sowie einer verantwortungsvollen schrittweisen Öffnung von Kitas, Schulen sowie anderen Einrichtungen in besonderem Maße! Und die anstehenden Aufgaben bleiben herausfordernd. Nun gilt es langfristige Strategien zu entwickeln, die die so gestaltet sein müssen, dass sie übermäßige Härten insbesondere für ohnehin bereits benachteiligte Bevölkerungsgruppen vermeiden.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern für die Stadt und den Landkreis Göttingen, dass dieser Wiederöffnungsprozess von folgenden Prämissen geleitet wird:

• Bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche bei der Aufnahme in Schule und Kita besonders berücksichtigen! Es muss schnell ein umfassender Plan zur stufenweisen Kita-Öffnung entwickelt werden. Bei der stufenweisen Öffnung von Kita und Schule soll sich vorrangig an Kriterien orientiert werden, die eine Antwort auf die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit geben. Wenn durch die Anwendung des Kriteriums „Bildungsgerechtigkeit“ kurzfristig große Bedarfslagen an einzelnen Schulen entstehen können, sollte der Lehrkräfteeinsatz an Schulen flexibilisiert werden, damit sich Schulen bei erhöhtem Lehrkräftebedarf unbürokratisch gegenseitig aushelfen können.

o Erarbeitung eines Konzeptes zur besonderen Förderung von bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen. Das Konzept wird erarbeitet in Zusammenarbeit von den für Schule, Jugend und Soziales zuständigen Fachbereichen, den Schulen (unter Einbeziehung der Landesschulbehörde), den Trägern sozialer Einrichtungen wie z.B. Jugendhäusern, Trägern der freien Jugendhilfe, die u.a. auch Angebote im öffentlichen Raum machen sowie weiteren relevanten Akteuren im Bereich Bildung und Betreuung

o Es sieht den vorrangigen Kita- und Schulbesuch für Kinder und Jugendliche vor, die zuhause nicht ausreichend lernen können. Es ermöglicht Unterstützungsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien, um ihre Teilhabe am Bildungssystem in den kommenden Wochen und Monaten zu sichern, damit sie nicht zunehmend abhängt zu werden

o Es beschreibt eine verbindliche Zusammenarbeit zwischen den im Jugendamt zuständigen Bereichen für die Jugendarbeit, die Kitas und den ASD, den Kitas selbst sowie den Schulen, den städtischen und freien Jugendzentren, weiteren Trägern der freien Jugendhilfe mit dem Ziel der Unterstützung von besonders belasteten Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien

o Es stellt die Schulbegleitung für inklusiv beschulte Kinder auch in der Corona-Krise sicher und beschreibt ggf. ein situationsangepasstes Aufgabenprofil der Schulbegleitung.

• Ausstattung mit digitalen Endgeräten für das „Lernen zu Hause“! Schüler*innen ohne hinreichende Ausstattung wird für das „Lernen zu Hause“ umgehend ein taugliches digitales Gerät zur Verfügung gestellt. Der DigitalPakt Schule ist dahingehend geöffnet worden, dass vorzeitig Gelder abgerufen werden können, um mobile Geräte zu diesem Zweck anzuschaffen. Leider verzögert sich der zeitnahe Mittelabruf auch aufgrund von Versäumnissen des Kultusministeriums. Wir setzen uns dafür ein, dass eine möglichst unbürokratische und schnelle Bearbeitung der eingehenden Anträge möglich ist.

• Täglich ein gesundes Mittagessen für Kinder gewährleisten! Für Kinder und Jugendliche kann als Folge der Corona-Krise die Ernährungsversorgung in Frage gestellt sein, wenn sie nicht mehr täglich ihr Mittagessen in der Schule erhalten. Z.B. bei Leistungsbezieher*innen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket, können finanzielle Probleme auftreten. Die Regelungen des BMAS für Ausgleichszahlungen sind nicht ausreichend, da sie sich an der institutionellen Mittagsversorgung orientieren und den Kommunen vor allem im ländlichen Raum erhebliche Zusatzkosten aufbürden. Darüber hinaus bedarf es bei sozialen Ursachen für familiäre Unterversorgungslagen der wohnortnahen Unterstützung für die betroffenen Familien. Hier müssen passende Konzepte entwickelt werden, wie die Kinder zu einem gesunden Mittagessen kommen!

• Nicht nur Unterricht in Kernfächern organisieren, sondern soziales Lernen, Auseinandersetzung mit Erlebtem und Bewegung sichern Angesichts der geteilten Krisenerfahrung in sozialer Isolation ist es notwendig, den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zu geben, mit Unterstützung der Lehrkräfte in die Schule zurückzukehren und das Erlebte zu bewältigen. Das erfordert im Primar- wie im Sekundarbereich neue pädagogische Konzepte, um die gesammelten Erfahrungen im unterrichtlichen Zusammenhang zu verarbeiten. Zur Begleitung müssen die sozialpädagogischen Fachkräfte, soweit sie der einzelnen Schule zur Verfügung stehen, einbezogen werden. Auch wenn Sportunterricht verboten ist, wird im Leitfaden für Schulleitungen, Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte an Schulen“ ausdrücklich auf die Möglichkeit sinnvoller „alternative[r] Bewegungsangebote – unter Wahrung des Abstandsgebotes und nach Möglichkeit im Freien“ ausdrücklich hingewiesen. Die Corona-Krise fordert das Schulsystem auch dahingehend heraus, als überkommene und rein auf ökonomische Effizienz getrimmte Methoden schon aufgrund der Gruppengrößen kaum umsetzbar sind. Die aktuelle Situation stellt daher auch eine Möglichkeit dar, das Bildungssystem zukunftssicher weiterzuentwickeln und dabei soziale Lernziele als wesentlichen Faktor von Bildung zu berücksichtigen.

• Benotungen von Aufgaben, die in Heimarbeit erledigt werden, auszusetzen! Angesichts des ohnehin nicht mehr „normal“ durchzuführenden Schuljahres, ist es notwendig, den Notendruck von den Schüler*innen und den Familien zu nehmen. Gleiches gilt für die vom Kultusministerium vorgesehenen Erleichterungen mit Blick auf die Versetzung der Schüler*innen in der Sek. I. Diese müssen umfassend genutzt werden, um die Corona-Lage nicht zum Nachteil für die Schüler*innen werden zu lassen.

• Wahl zum Göttinger Jugendparlament durchführen! Es wird begrüßt, dass die Wahl zum ersten Göttinger Jugendparlament Ende Juni fortgesetzt werden soll. In Krisenzeiten ist die Stimme der Jugendlichen noch mehr unterrepräsentiert als ohnehin schon. Hier gilt es, deren Position zu stärken.

Städtischen und ländlichen Räumen stellen sich auch beim Thema Corona-Pandemie unterschiedliche Herausforderungen. Die Lage stellt sich im ländlichen Raum zum Teil einfacher dar wegen der größeren Platzressourcen, zum Teil auch drastischer u.a. aufgrund der geringen Infrastrukturdichte. Bezogen auf die Möglichkeit zu Homeschooling ist die Internetversorgung nicht überall befriedigend. Dem muss möglichst schnell Abhilfe geschaffen werden. Wegen der weiteren Strecken haben der Öffentliche Personennahverkehr und für das Bildungssystem die freigestellten Schüler*innenverkehre eine besondere Bedeutung. Angesichts des Schichtunterrichts und der Abstandsgebote ist Vorsorge zu treffen, dass die Plätze im ÖPNV ausreichen und zu den von den Schulen benötigten Zeiten angeboten werden. Besonders bedeutungsvoll ist in diesem Zusammenhang die wohnortnahe Versorgung mit sozialen Einrichtungen, Familienzentren, u.ä.

Die Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise werden vor allem auf kommunaler Ebene umgesetzt und die dabei entstehenden Kosten schlagen sich insbesondere in den kommunalen Haushalten wieder. Daher fordern BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stadtverband und Kreisverband Göttingen einen angemessenen Lastenausgleich zwischen Bund, Land und Kommunen, um letztere zu befähigen, sinnvolle Unterstützungsmaßnahmen zum sozialen Ausgleich und zur Chancengerechtigkeit im Bildungssystem während der Krisenzeit umsetzen zu können.

Göttingen, Mai 2020

AG Bildung & Soziales
Stadtvorstand BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Göttingen
Kreisvorstand BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Göttingen

Kontakt für die AG Bildung:
Ute Reichmann, ute.reichmann@gruene-goettingen.de
Suse Stobbe, susanne.stobbe@gruene-goettingen.de
Nils Pagels, nils.pagels@gruene-goettingen.de

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