Eine starke Stimme verstummt?

Wie der Spagat zwischen Home Office und Home Schooling die Geschlechterungleichheit schonungslos offenlegt

11.05.20 –

Ina ist eine starke Grüne Frauenpolitikerin (Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Frauenpolitik der GRÜNEN in Niedersachen, niedersächsische Delegierte für den GRÜNEN Bundesfrauenrat, Mitglied im Frauenforum Göttingen und im Frauen*Streik-Bündnis Göttingen, Mitbegründerin des Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung Göttingen und gleichstellungspolitisch für GRÜNE in Göttingen aktiv). Dass sie auf die Frage nach einem Statement zur Belastung der Frauen in der Coronakrise nicht sofort antwortet, sehr merkwürdig!
Auf Nachfrage kam eine hastige Antwort: Neben Homeoffice in Vollzeit, Homeschooling, selbst kochen und Kinderprogramm als Ersatz für Spielplatz, Sport und Spielen mit den Freund*innen fehlt die Kraft für Reflexion und Schreiben. Und dann schreibt sie doch:

Ich habe meine Gedanken und Gefühle zur aktuellen Situation und dem, wie es mir ganz persönlich damit geht, verarbeitet (in ein paar Wochen sieht das hoffentlich weniger düster aus):

Und die feministische Stimme verstummt in der Kinderstube

Wir haben besondere Zeiten. Ein wenig wie früher. Oder zumindest so, wie ich mir ein düsteres Früher denke, dass ich nur aus Erzählungen kenne.
Lange habe ich mich gefragt: Wie war das bloß damals? Als Kinder zu bekommen noch geheißen hat, sich wirklich 24/7 um diese zu kümmern? Ohne Kinderbetreuung, ohne Gleichberechtigung? Ich bin in einer anderen Welt aufgewachsen. Ich wurde in eine Welt hinein geboren, in der zwar Mama die Hauptverantwortung für die Kinder trug – aber da waren auch Oma und Opa, Tante und Onkel, Papa und Kindergarten. Meine Welt war bunt. Meine Bezugspersonen waren vielfältig. Ich genoss die Vielfalt: Mit Oma Klöße kochen, mit Papa Karten spielen, mit Mama lesen üben, mit Opa wandern und im Kindergarten den Schmetterling spielen.
In so eine bunte Welt habe ich als junge Frau meine Kinder hineingeboren. Oder zumindest glaubte ich das. Kinder und Studium. Die Bilder in meinem Kopf waren farbenfroh und ich freute mich auf diese Zukunft: Mit dem Baby in die Vorlesung, das Kleinkind während meiner Politik-Abende vom Opa gut betreut wissen, mit den Kindern kreativen Quatsch modellieren und einen fantastischen Job machen, weil wir eine ganze Familie sind, in der alle sich gut kümmern können. Weil wir in einer modernen Welt leben. Kindergarten und Schule ganztags. So lässt sich alles gut vereinbaren und wir alle können unsere Potenziale ausschöpfen, das Miteinander und das Ohneeinander genießen.
Ich dachte, so sei das. Und so war es auch. Bis. Nunja. Bis Corona kam. Da war der Papa der Kinder schon eine Weile weg, was auch uncool war, aber es ging. Wir haben uns damit arrangiert. Weil es ja immer noch Oma, Opa, Onkels und Kitas gab. Corona hat sie alle genommen. Mama sein war für mich immer ein Teilzeitjob. Ich hätte ihn nie angetreten, wenn er mehr gewesen wäre. Und auf einen Schlag ist er 24/7. Jetzt muss ich ganz Mama sein. Der einzige Mensch für die Kinder, beinahe. Ich muss nicht nur Papa ersetzen, sondern auch Oma und Opa, die Onkels und ganz wichtig: Die Lehrer*innen und die Freund*innen. Ich muss Essen kochen und Hausaufgaben erklären, während ich im Homeoffice bin und natürlich mit Herzblut meinen Job machen, den ich liebe – nicht ganz so sehr wie meine Kinder. Ich schreie.
Ich muss lernen, mich zu zerreißen. Kinder oder Job? Geht denn heute noch beides? Ich muss aufgeben, was mir wichtig war. Frauenpower auf die Straße tragen! Selbstbestimmt leben! Wo ist meine starke Stimme für den Feminismus? Sie verstummt in der Kinderstube.

Ina fordert daher dringend:
- Kündigungsschutz und das Recht auf Arbeitszeitreduktion für Eltern, die aufgrund fehlender Kinderbetreuung nicht/in geringerem Umfang erwerbstätig sein können (auch im Homeoffice!) und ein Corona-Elterngeld.
- Ausbau der Infrastruktur fürs Homeschooling: Es müssen alle Kinder sächlich für den Online-Unterricht ausgestattet sein und die Schule muss sich darum kümmern, dass die Kinder die nötige Kompetenz haben, das auch nutzen zu können, nicht die Eltern (weil das nicht alle leisten können und die soziale Schere dann weiter auseinander geht).
- Die Gremien, die sich die Corona-Beschränkungen ausdenken, müssen bitte immer alle Menschen im Blick haben - alt und jung, mit und ohne Familie, arm und bildungsfern.
- Die Lastenverteilung in der Krise muss sozial ausgewogen sein. Wir brauchen keine Abwrackprämie. Aber wir brauchen eine Aufstockung der Hartz IV-Regelsätze für die Kinder, die jetzt kein warmes Essen in Schule und Kita bekommen.

Die Situation ist voraussichtlich vorübergehend, aber trotzdem belastend, auch weil niemand weiß, wie lange es noch so bleibt. Ina ist nicht verstummt, aber doch leiser in der Krise. Es wird deutlich, wer im Alltag doppelt belastet ist mit Beruf und Carearbeit und weniger Kraft hat, sich politisch zu beteiligen. Da Frauen besonders als Alleinerziehende noch immer häufiger diese mehrfache Belastung schultern, fehlen ihre Stimmen, um laut gerechte Bezahlung und gute Bedingungen für all die Berufe in Pflege, Medizin, Kinderbetreuung und an der Kasse im Supermarkt zu fordern, die wir besonders in der Corona-Krise als systemrelevant erleben. Was wir aktuell erleben, ist ein Paradoxon: Die systemrelevanten Menschen und Berufsgruppen sind so beansprucht, dass sie keine Zeit für Lobbyarbeit haben. Die Wirtschaftsverbände der Automobilindustrie und der Flugbranche hingegen haben trotz fehlender Systemrelevanz und ohne nachhaltiges Geschäftsmodell die Kraft, sich für die eigenen Interessen stark zu machen und werden von der GroKo in Berlin gehört. Anders als Kinder und Eltern.
Wir GRÜNEN müssen denen eine Stimme geben, denen die Kraft fehlt, sich politisch einzumischen. Wir werden weiter für Frauen und Kinder, für Gleichberechtigung und Chancengleichheit, für Klimaschutz und Nachhaltigkeit streiten.

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